Wie im Urwald – Folge 6 der Reihe KompassNatur
22.08.2024: Nachts erwacht das Totholz im Nationalpark Sächsische Schweiz zum Leben. Das ist die Stunde der Käfer. Und manches, was da zum Vorschein kommt, gehört anderswo längst der Vergangenheit an.
Im Scheinwerferlicht des Geländewagens schält sich ein elendes Etwas aus der Finsternis. Eine Fichte – oder was davon übrig ist. Halb verrottet, eingesponnen von Brombeeren und Spinnweben, über und über mit Baumpilzen besetzt. „Der sieht gut aus“, sagt Annika Busse und tritt auf die Bremse. Wir steigen aus und knipsen die Stirnlampen an. Im Licht zeigt der Wald seine Blößen: überall tote Bäume. In der Steinzeit hätte hier ein Eichhörnchen von Wipfel zu Wipfel bis nach Moskau springen können, ohne einmal den Boden zu berühren. Dichte Urwälder bis zum Horizont. Das war die Welt des Käfers, den wir an diesem Abend hier suchen: Ipidia binotata. Heute hat er nur noch den Großen Zschand.
Nachts erwachen die abgestorbenen Fichten im Nationalpark Sächsische Schweiz wieder zum Leben. Dann beginnt hier das große Krabbeln. Totholzkäfer in allen Formen und Größen kommen zum Vorschein und machen sich ans Werk. Die alten Stämme sind ihre Brutstätte, ihr Futterplatz und ihr Zuhause. Manche ernähren sich von dem, was ihnen das Holz bietet, andere von holzzersetzenden Pilzen, wieder andere von Borkenkäferlarven. So tragen sie ihren Teil dazu bei, dass der Tod im Wald seine Aufgabe erfüllen kann und zum Nährboden neuen Lebens wird. Etwa 1400 Totholzkäferarten kommen in Deutschland vor, von denen 60 allein auf die Fichte spezialisiert sind. Doch Ipidia binotata ist nicht einfach nur irgendein Totholzkäfer. Er ist etwas Besonderes: ein Urwaldrelikt. Einer der letzten Hinterbliebenen einer Zeit, bevor die Menschen den Wäldern Europas mit Äxten und Sägen zu Leibe rückten.
Sachsens Urwälder verschwanden schon vor vielen Jahrhunderten. Was blieb, waren ein paar urige Flecken Restnatur inmitten von bewirtschafteten Forstkulturen. Die Felsriffe und stillen Gründe der Sächsischen Schweiz sind ein Beispiel dafür – heute die Kernlagen des Nationalparks. Hier haben die Käfer die Zeit überdauert. „Diese Arten brauchen zum Überleben größer dimensioniertes und insgesamt mehr Totholz als in bewirtschafteten Wäldern vorkommt“, sagt Annika Busse, die sich im Nationalpark um Forschungs- und Monitoringaufgaben kümmert. Im Großen Zschand hat der Tod seinen Platz gefunden – die abgestorbenen Bäume werden nicht entfernt. Das ist die Regel im Nationalpark: Die Natur darf leben und sterben wie sie will. Und besonders seit den Borkenkäferinvasionen der letzten Jahre leben die Totholzinsekten hier fast wie im Schlaraffenland. Neuerdings werden immer seltenere Arten gefunden. 2007 wurde erstmals ein Urwaldkäfer nachgewiesen, drei Jahre später waren es schon sechs verschiedene Reliktarten – 2023 schließlich zwölf. Annika Busse freut das, denn solche Vorkommen gelten als Indikatoren naturnaher Wälder. So gesehen ist Ipidia binotata also nicht nur ein Schutzbefohlener des Nationalparks, sondern auch ein Qualitätsmerkmal.
Doch zunächst mal müssen wir den Käfer finden. In Sachsen könne man die Vorkommen an zwei Händen abzählen, sagt Annika Busse. Hübsch ist er: schwarz glänzend, mit vier orangenen Punkten auf den Flügeln. Mit bloßem Auge ist davon aber kaum etwas zu erkennen, denn der schmucke Geselle misst im Ganzen nicht mal fünf Millimeter. Wir haben deshalb einen großen weißen Klopfschirm mitgebracht, mit dem sich die Winzlinge gut einfangen lassen. Falls wir einen erwischen, muss er in eine Dose. Damit geht´s zurück ins Büro. Unterm Mikroskop wollen wir ihn fotografieren, bevor er wieder in die Freiheit darf.
Die Dunkelheit legt sich wie ein Tunnel um den Schein unserer Lampen. Wer die Käfer finden will, muss zuerst nach Baumpilzen Ausschau halten, sagt Annika Busse. Unter den fladenartigen Fruchtkörpern sitzen sie meist – gut geschützt wie unter einem Baldachin – und genießen ihren Baumleichenschmaus oder was auch immer sie dort treiben. Der Große Zschand enttäuscht uns nicht! In weniger als einer halben Stunde hat die Käferexpertin sechs kleine Insekten in der Dose: vier Ipidia und zwei größere Exemplare, von denen der eine wegen seiner klopsigen Körperform sogleich einen Spitznamen bekommt: „Bulletti“ – für Diaperis boleti. Er soll sogar einen eigenen Körpergeruch haben. Freilich wenig appetitlich. Wie Moschus, sagt Annika Busse. Die Nacht ist noch jung und steckt offenbar voller Überraschungen. Wir machen uns trotzdem auf den Rückweg. Die Zeit bis zum Morgengrauen soll ihnen allein gehören: den Krabblern und Urviechern des Nationalparks.
Text/Fotos: Hartmut Landgraf