Kompass Natur Reihe 2, Folge 4 – Miras Reise
Kuriose Entdeckung im Elbsandsteingebirge: Vor fünf Jahren standen sich hier zwei Luchse gegenüber – einer lebendig, der andere aus Stein. Eine Bachelorarbeit bringt den Fall jetzt ans Licht.
Wer in Sachsen Spuren von Wildnis sucht, den führt der Weg irgendwann zu einem verwitterten, moosgrünen Felsblock im Großen Ziegengrund. Hier, im hintersten Winkel des Nationalparks Sächsische Schweiz, ist ein Relikt aus alter Zeit erhalten, als sich noch Schmuggler und Wilddiebe in den sächsischen Wäldern herumtrieben – und große Raubtiere. Hier an der böhmischen Grenze bringt ihn damals ein Jäger mit einem gezielten Schuss zur Strecke: im Jahr 1743, Sachsens letzten Luchs. Davon künden ein imposantes Relief und eine Denkschrift aus der Zeit, die in den Felsen gemeißelt sind. Und genau hier, am „Luchsstein“, kommt es fast drei Jahrhunderte später, im Sommer 2020, zu einer denkwürdigen Begegnung.
Sie müssen sich beinahe Auge in Auge gegenübergestanden haben – der Luchs aus Stein und seine quicklebendige Artgenossin: Mira, eine junge Luchsin, zwei Jahre alt und weit herumgekommen – geboren in einem Gehege in Österreich, im Nordwesten Polens in die Freiheit entlassen und von dort über Hunderte von Kilometern zurück nach Süden gewandert. Direkt vis-à-vis vom Luchsstein, nur 150 Meter Luftlinie entfernt, ruht sie sich damals kurz aus – und hinterlässt dabei eine bleibende Spur: einen digitalen Fußabdruck. Aufgezeichnet von einem Telemetrie-Halsband, mit dem sie besendert ist, landen die Daten viele Monate später am Institut für Forstzoologie der TU Dresden in Tharandt.
Eigentlich ist dieses „Stelldichein“ der beiden Tiere nur ein kurioser Zufallsfund, der jetzt im Rahmen einer Bachelorarbeit ans Licht kam. Doch er steht in einem spannenden Kontext. Denn seit den 1930er-Jahren gibt es im Elbsandsteingebirge immer wieder vereinzelte Hinweise auf durchwandernde Luchse – mal ist es ein gerissenes Reh oder eine verdächtige Spur, mal eine flüchtige, meist zweifelhafte Beobachtung. Schon lange wird vermutet, dass solche Episoden keine Zufälle sind, sondern dass besonders die wald- und schluchtenreichen, vergleichsweise ruhigen Gebiete der Hinteren Sächsischen Schweiz Luchsen ganz passable Bedingungen bieten. Miras Sender-Daten liefern nun erstmals belastbare Indizien dafür: Sie zeigen, dass die Luchsin auf ihrer Wanderung ganze 44 Tage in der Gegend blieb – mal auf sächsischer, mal auf tschechischer Seite der Grenze, aber länger als anderswo zuvor. Und damit wird es für Ronny Goldberg richtig spannend. Der Landschaftsökologe arbeitet bei der Nationalpark- und Forstverwaltung Sächsische Schweiz im Fachbereich Naturschutz, Gebietsentwicklung, Forschung und ist derjenige, welcher die besagte Bachelorarbeit betreute. Eine Studentin des Studiengangs Umweltmonitoring der Hochschule für Technik und Wirtschaft Dresden hat Miras Daten ausgewertet, um Muster darin zu erkennen: Wie bewegt sie sich durch die Landschaft, welche Räume gefallen ihr.
Was herauskam, legt den Schluss nahe, dass zumindest Hoffnung auf eine dauerhafte Rückkehr dieser größten europäischen Katzenart besteht. Irgendwann könnte sie wieder im Elbsandsteingebirge heimisch werden – wie zuvor schon im Harz und im Bayerischen Wald. Und damit wäre es auch in den Wäldern am Luchsstein wieder ein bisschen wilder.
Ronny Goldberg war schon ewig nicht mehr im Großen Ziegengrund. Das Jagddenkmal hat er zuletzt vor 20 Jahren besucht. „Solche Orte haben mich schon in der Jugend fasziniert, weil sie Geschichten über die Landschaft erzählen“, sagt der Nationalparkmann. Miras Reise liefert den passenden Anlass für ein Wiedersehen. Wo der Luchsstein steht, treffen zwei schmale, zerklüftete Felsgründe wie eine T-Kreuzung aufeinander. Ein wenig begangener Bergpfad geht hindurch. Wer Stille sucht, wird sie hier finden. Ein Ort, an dem die Natur Selbstgespräche führt. Hoch überm Tal bieten allerlei Klippen und Vorsprünge beste Logenplätze – für einen Luchs. Dort oben hat Mira vor fünf Jahren gestanden.
Warum blieb sie nicht im Elbsandstein? Weibliche Luchse sind im Allgemeinen gebietstreu und keine großen Wanderer – Mira war eine Ausnahme. Gab es hier nicht genug Nahrung für sie? Oder war sie, zweijährig und vermutlich gerade geschlechtsreif, auf der Suche nach einem Partner? Auf diese Fragen geben ihre Sender-Daten keine Antwort. Im September 2020 wandert die Luchsin schließlich westwärts ins Erzgebirgsvorland weiter. Gut ein Jahr später verliert sich ihre Spur im Saale-Orla-Kreis in Thüringen. Doch für Ronny Goldberg ist das nicht das Ende der Geschichte. 250 Kilometer weiter östlich gibt es Luchse in den tschechischen Beskiden. Im Westen leben welche im Harz. Im Westerzgebirge und im Thüringer Wald werden derzeit Luchse ausgewildert. Das Elbsandsteingebirge, denkt der Naturschützer, könnte irgendwann eine Brücke zwischen diesen Populationen bilden. „Die Gegend hier taugt für Luchse“, sagt er. Und der Luchsstein ist der Beweis.
Text: Hartmut Landgraf
Mit freundlicher Unterstützung des Vereins der Freunde des Nationalparks
BU:
Foto: M. Richter
Das einzige bekannte Foto der Luchsin Mira in der Sächsischen Schweiz – aufgenommen von einer Wildkamera, Ende Juli 2020 in der Nähe von Hertigswalde.