Ein junger Schwarzstorch steht in seinem Horst im Nationalpark Sächsische Schweiz und wedelt mit den Flügeln
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22.08.2025

Kompass Natur Reihe 2, Folge 1 - Raus aus dem Nest

Schwarzstörche bauen ihre Nester tief im Wald, wo ihr Nachwuchs kein Aufsehen erregt. Den Jungen ist diese Vorsichtsmaßnahme egal. Kaum sind die Alten fort, machen sie, was sie wollen.

Sowas, wie das da oben auf dem Felsen, passiert in den besten Familien. Sind die Alten weg, gibt´s im Nest kein Halten mehr. Schwupp, wird die Deckung aufgegeben, mit ausgebreiteten Flügeln und keck geschwellter Brust an der Kante zum Abgrund herumstolziert, über den ganzen Felsbalkon gehüpft und geflattert, damit noch der letzte Waschbär Wind von der Sache bekommt. Kehren die Eltern zurück, sitzen die beiden Jungstörche, so als wäre nichts gewesen, wieder brav an ihrem Platz. Und keiner hat´s gemerkt. Oder fast keiner.

Frank Strohbach hatte mir die Stelle in den Felsen tags zuvor gezeigt. Alleine wäre sie mir niemals aufgefallen. Ich hocke im Schutz der Böschung hinter einem schwergewichtigen Teleobjektiv mit 600 mm Brennweite und bekomme jedes Detail ihres Familienlebens mit. Gestern war auf dem Felsvorsprung kaum Bewegung. Aber heute ist da oben richtig was los. Frank Strohbachs Job ist es, dem Treiben dort die nötige Ruhe zu verschaffen. Denn anders als ihre weißen Verwandten, meiden Schwarzstörche die Nähe zum Menschen und brüten lieber zurückgezogen an versteckten Plätzen tief im Wald. Strohbach ist Ranger bei der Nationalparkwacht in Hinterhermsdorf. Zu Beginn der Brutzeit im April waren er und seine Kollegin Nicole Aulitzky tagelang unterwegs, um den Nistplatz von Meister Adebar ausfindig zu machen – und die unmittelbare Umgebung abzusperren, zum Schutz der seltenen Tiere. Strohbach kennt ein halbes Dutzend alte Nistplätze in seinem Revier, wo die Störche früher mal gebrütet haben. Haben sie ihren Platz gefunden, geht alles sehr schnell. Gut einen Monat dauert die Brutzeit, weitere 40 Tage die Aufzucht der Jungen. Jetzt, Anfang Juli, sind diese fast flügge, und schon bald geht´s auf die erste große Reise: von der Sächsischen Schweiz ins Winterquartier nach Afrika.

Es gehört viel Glück dazu, einen Schwarzstorch zu Gesicht zu bekommen. Die Vögel sind sehr scheu und dank ihres dunklen Gefieders im Unterholz kaum zu erspähen. Während der Brutzeit gibt es für die junge Familie viele Gefahren. Manchmal holt sich der Uhu ein Junges. Oder der Waschbär. Oder die Vögel fühlen sich gestört und lassen ihr Gelege im Stich. Sind die Jungen geschlüpft, machen die Alten an nahen Gewässern wie der Kirnitzsch oder Sebnitz Jagd auf Fische, Mäuse, Insekten und Frösche – und lassen den Nachwuchs ab der vierten Lebenswoche meist unbewacht zurück. In dieser Zeit kann viel schiefgehen. 

Frank Strohbach und Nicole Aulitzky freuen sich, dass ihre Störche wohlauf sind. Vier Junge waren im Frühjahr geschlüpft. Nur zwei davon sind noch im Nest. Langsam wird es Zeit, Abschied von den Tieren zu nehmen. 

Plötzlich kehrt oben in den Felsen Ruhe ein. Die beiden Jungstörche ducken sich und blicken gebannt zum Wald hinüber. Zwischen den Bäumen taucht ein riesiger schwarzer Vogel auf – er kommt wie ein Geist aus dem Nichts. Beine und Schnabel leuchten rot – Elternalarm! Ich klappe mein Stativ zusammen und packe die Kamera zurück in den Rucksack. Ich habe genug gesehen. Die kleine Familie da oben wird nicht mehr lange zusammen sein. Der Rest ihres kurzen gemeinsamen Glücks soll den Störchen alleine gehören. Unbeobachtet.

Text/Fotos: Hartmut Landgraf

Mit freundlicher Unterstützung des Vereins der Freunde des Nationalparks

Bildunterschrift:

Die Storchen-Eltern sind ausgeflogen – irgendwo im Wald unterwegs auf Nahrungssuche. Das Junge probiert derweil, wozu zwei Flügel eigentlich nütze sind. Foto: Hartmut Landgraf